Tage des
Abschieds

Susan Enders wird auf der Palliativstation der Klinikum Bayreuth GmbH gepflegt. Bis sie an Krebs stirbt. Ihr Ehemann, Prof. Dr. Axel Enders, erinnert sich an die Tage des Abschieds. Was er zu sagen hat, ist eine bemerkenswerte Annäherung an das Thema Sterben:

In dem Moment, in dem man eine Krebsdiagnose erhält, ändert sich alles. Aus unbeschwertem Leben, aus Lebensfreude, Genuss, Hoffnung, Träumen und Zielen wird Angst.
Angst vor dem was kommt.
Todesangst.

Meine Frau Susan erhielt ihre Krebsdiagnose im Alter von 39 Jahren, vier Wochen nach der Geburt unseres zweiten Kindes, unseres Sohnes Maxwell. Wir lebten in den USA, in Lincoln Nebraska, weit weg von unseren beiden Familien, die im Osten Deutschlands zu Hause sind.
Wir beide hatten Super-Jobs an der Universität. Unsere Tochter Kimi war gerade vier Jahre alt.
Ich erinnere mich genau, wie unser Baby Maxwell neben mir im Maxi Cosy lag bei dem Termin beim Onkologen, weil wir keinen Babysitter bekommen konnten. Dr. Green, sprach von “breast cancer stage 4” und von Metastasen in Leber und Knochen. Dazu Schilddrüsenkrebs. Als Susan nach einem ersten Weinkrampf wieder sprechen konnte, war ihr erster Satz: “Es hätte alles so schön sein können”.

An einem der folgenden Tage auf dem Weg zur Arbeit hörte ich im National Public Radio in einer Sendung über die Psychologin Elizabeth Kübler-Ross, die im Jahr 1969 in ihrem Buch “On Death and Dying” – Über den Tod und das Sterben” ein Fünf-Phasen-Modell vorstellte, das den Umgang sterbenskranker Menschen mit ihrer Situation beschreibt. Nach Kübler-Ross beginnt der Sterbeprozess bereits mit der Aufklärung über die tödliche Erkrankung durch den Arzt. Auf die Nachricht, unheilbar erkrankt zu sein, reagieren Kranke stufenweise.

Die fünf Phasen des Sterbens sind das Leugnen, der Zorn, das Verhandeln, Depression und Leid und letztendlich das Akzeptieren.

Das Leugnen war das einfachste. Trotz der Endgültigkeit der Diagnose, dem Wissen um das Unausweichliche, packten wir Projekte an. Wir kauften ein größeres Haus, damit unsere beiden Kinder dort aufwachsen konnten. Vier Jahre später beschlossen wir einen Neustart, indem wir zu unseren Familien zurück nach Deutschland zogen, verkauften unser Haus in Lincoln, wischten vorher sämtliche unserer Handabdrücke darin weg […] packten unser gesamtes Leben in einen Überseecontainer und starteten in Bayreuth neu durch. Begannen beide neue Jobs an der Universität. 2019 unterschrieben wir einen Hausbauvertrag.

Man kann das gut mit der Titanic vergleichen. Als der Eisberg erst gerammt war, nutzten die Passagiere das auf das Deck gefallene Eis, um ihre Drinks zu kühlen.

Doch dann begann sich das Schiff zu neigen, der beginnende Untergang wurde sichtbar. Die zweite Phase, Wut und Zorn, kam dann ganz von selbst. Wut auf das ewige Warten. Das Warten war schlimmer als die Krankheit selbst. Warten auf einen Arzttermin. Warten auf gute Nachrichten. Wut, dass die Scheiße mit den schlechten Nachrichten nicht aufhörte. Das medizinische System erzeugte die Wut. Wir wünschten uns so sehr einen Coach, der die Strategie dirigierte. Einen, bei dem die Befunde zusammenlaufen und der aus allen Informationen heraus einen Schlachtplan erstellt.

Zu Beginn 2020 lag Susan sechs lange Tage voller Ungewissheit im Krankenhaus, schwer krank und miserabel. Traurigkeit machte sich breit. Die vierte Phase. Es geschah überhaupt nichts mehr. Susan lag einfach nur da und es ging ihr schlecht. Die Chemo wurde ausgesetzt. Wir hatten das Gefühl, wertvolle Zeit für eine erfolgreiche Behandlung zu verlieren. Wir wussten da noch nicht, dass es für Susan keine Behandlungsmöglichkeit mehr gab.

Die Annahme des Unvermeidlichen kam mit der Entscheidung für die Palliativstation.

Susan wurde von Schwestern in ihrem Bett zur Palliativstation geschoben, ich lief neben ihr her. Wir beide hielten festen Blickkontakt. In Ihrem Blick erkannte ich – sie hatte es akzeptiert. Beim Einrollen in die Palliativstation spielte leise Hintergrundmusik. Wir fuhren am ersten Zimmer der Station vorbei, davor stand eine Schale mit einer Kerze, Sand, Muscheln. Auf dem Empfangstresen standen frische Blumen. Es roch nach Kaffee. Fast wie im Himmel. Was als nächstes kam war unglaublich. Ich war nur kurz unterwegs, um etwas für Susan einzukaufen, da rief sie mich glücklich an und erzählte, dass sie schon mehrere gefrorene Sektstäbchen gelutscht hatte und dass es ihr super geht. “Die wissen hier genau was ich brauche”, sagte sie, “in ein paar Tagen bin ich hier raus, bring mir bitte ein paar Fruchtsäfte mit.”

Frau Dr. Gernhardt erklärte mir die Fakten. Wie die Werte sind. In welcher Reihenfolge die Organe ausfallen werden. Wie die letzten Momente meiner Frau sein werden. Friedlich oder qualvoll, fragte ich? Friedlich, war ihre Antwort.

Diese Todesnachricht kam eingebettet in ein Gespräch, das von Empathie, Mitgefühl, Verbundenheit mit uns auf den Ebenen Mutter, Gleichaltrige, Ossi – alles was man verbinden konnte, wurde verbunden – so getragen war, dass ich zu dem Schluss kam, in ihren professionellen Armen möchten wir alle sterben. Ein zweites Bett wurde neben das meiner Frau gestellt, für mich. Ich wollte rund um die Uhr bei ihr sein. Sie sollte ihre letzten Nächte nicht alleine in einer Palliativstation verbringen. Wir machen das gemeinsam. Susan fragte nach medizinischem Marihuana. Wenn das schon meine letzten Tage sind, warum dann nicht high. Frau Dr. Gernhardt, die Direktorin der Palliativstation an der Klinikum Bayreuth GmbH, klärte uns auf über den Prozess und klang dabei nicht besonders romantisch. “Wir sitzen nicht im Kreis und rauchen eine” sagte sie. Schade. Aber Susan bekam es, ich nicht, und sie fühlte sich gut versorgt.

Ein Angebot der Palliativstation war es, gemeinsam mit der Kunsttherapeutin Ingrid Seidel Handabdrücke von uns Vieren anzufertigen. Ich war auf Anhieb dagegen.

Mein erster Reflex war, dass man sowas ja dann hat und nicht mal mehr wegschmeißen kann. Trotzdem, irgendwas müssen wir ja machen mit Mami und den Kindern, also Handabdrücke. Gesagt, getan. Die Kinder waren eifrig dabei und ich begann zu verstehen dass das eine gute Idee war.

Das tägliche Geschäft in den wenigen Tagen die blieben, sechs an der Zahl, war geprägt von ständiger Pflege und Fürsorge durch die Mitarbeiterinnen der Station. Eva Weigel, Sylvia Just, Daniela Obwandner, Conny Schulz, Leia Hofmann, und Sabrina Buley.

Unsere Kinder bekamen Angebote von den Psycho-Onkologinnen Frau Grätz, Frau Schulz und Frau Buchner. Die Pflege wurde stündlich schwieriger. Lymphdrainagen, Massagen, Beutel und Medikamente.

Als ich einmal von einem Besuch bei unseren Kindern zu Hause zurück in die Station kam, hatte Susan einen Notfallknopf am Armgelenk. Soweit war es also gekommen. Notfallknopf.Ihr Handy lag auf dem Nachttisch. Susan hatte die Zeit meiner Abwesenheit genutzt, um noch letzte Nachrichten zu verschicken. Danach hat sie es nie mehr angefasst. Ich setzte mich zu ihr, ihre Aufmerksamkeit war jetzt vollständig auf mich gerichtet. Und meine auf sie. Dann richtete sie ihre letzten Worte an mich.

Wir waren da wie Jack und Rose, auf einem Stück Holz, in eisig kaltem Wasser. Die Titanic war gesunken, und mit ihr jegliche Hoffnung auf irdische Rettung.

Die die helfen konnten waren jetzt weit weg. Was gibt es in diesem Moment noch zu sagen? Was ist wertvoll genug, in den letzten Momenten des Lebens formuliert zu werden? Was möchte man dem Partner jetzt noch mitteilen, das man bisher noch nicht gesagt hat, jetzt wo der eiskalte Tod zugreift?

Die letzten Atemzüge meiner Frau kamen genau wie vorausgesagt.
Rasselnd.
Und dann war es still.
Ich war allein mit meiner Frau.
Eine Kerze brannte, das Fenster war offen.
Ihre Seele machte sich auf den Weg.

Die Schwestern richteten ihr Totenbett her. Ich nahm lange von ihr Abschied. An der Wand hing
ihre Jacke in der sie gekommen war. Ich nahm sie schließlich, ebenso ihr Handy, ihre Handtasche, und das Bild mit den Handabdrücken. Als ich aus dem Zimmer herauskam, stand vor der Tür eine Schale mit einer Kerze, Sand und Muscheln. Ich fuhr nach Hause durch die Januarnacht, zu meinen Kindern.

Es war in diesem Moment als ich den Wert des Bildes mit unseren Handabdrücken erkannte. Ich hatte da etwas, das wir gleichzeitig berührt hatten. Handabdrücke.

Zuhause wischt man die Fettpfoten doch immer und überall weg! Wie damals in Nebraska. Aber hier hatten wir alle angefasst. Hier hat Susan angefasst. Aus heutiger Sicht ist das eine der wertvollsten Erinnerungsstücke, die wir von unserer Vierer-Familie haben. Das Bild mit den Handabdrücken habe ich für die Todesanzeige in der Zeitung aufgegriffen. Wir haben auch mit den gleichen Farbhänden Susans Urne berührt, bevor ihre Asche an die Erde zurück gegeben wurde. Unsere Hände hängen heute prominent im Wohnzimmer unseres Hauses.

Wenn ich Fotos anschaue mit Susan drauf, mit unserer intakten Familie von früher, dann kann ich immer noch nicht glauben, dass sie tot ist. Wie kann ein so nahestehender und immer präsenter Mensch auf einmal weg sein?! Ist er wirklich weg? Ist seine Energie noch da? Ist irgendwas noch da? Irgendwo? In uns? In jemandem?

Manche glauben, dass man einen geliebten Menschen, den man verloren hat, eines Tages in
einem anderen Menschen wieder erkennt. Sind wir alle miteinander verbunden vor dem Tod und danach, wie im Buch “Der Weltgeist” von Nelson und Kindel vorgeschlagen wird? Ich bin selbst Wissenschaftler, für mich gilt kein Glaube, sondern nur testbare Regeln. Und doch habe ich tatsächlich eines Tages einen solchen Menschen gefunden, in dem ich Susan wiedererkenne.

Sämtliche uns zuteil gewordenen Geldspenden habe ich an den Hospizverein übergeben. Ich habe dann einen großen Blumengruß zur Palliativstation gebracht. Das gesamte Team der Station, aber auch die Psycho-Onkologen, die Kunsttherapeutin, und eine sehr nette Ehrenamtliche, deren Namen ich nie erfahren hatte, die uns selbstgemachte Stoffpüppchen geschenkt hatte, hatten uns in unserer Not geholfen. Dabei war es nicht wichtig ob Handabdrücke oder Stoffpüppchen.

Was mich eigentlich berührt hatte war die Tatsache, dass es gute Menschen gibt, die freiwillig, teilweise ehrenamtlich, für fremde Menschen wie uns aus reiner Nächstenliebe da sind, wenn sonst kein anderer mehr helfen kann.

Ich fragte damals Frau Dr. Gernhardt, ob sie eigentlich eine gute Ärztin sei, weil mir ja schon auffiele, dass die meisten ihrer Patienten sterben. Sie fanden das nicht auf Anhieb lustig, oder sie hat es zumindest nicht gezeigt. Ist Humor in der Palliativmedizin zulässig? Eine Studie im Fachjournal “Palliativmedizin” von 2010 sagt dazu “ja unbedingt”. Und zitiert Friedrich Nietzsche mit “Nur der Mensch leidet so qualvoll in dieser Welt, dass er gezwungen war, das Lachen zu erfinden”. Sigmund Freud deutet das Lachen als ein Phänomen der Abfuhr von Spannung und Erregung, was mir sehr angebracht erscheint für eine Palliativstation.

Der Dramaturg George Bernhard Shaw schrieb einst:
“Das Leben hört nicht auf, komisch zu sein, wenn Menschen sterben. Ebenso bleibt es ernst, auch wenn Menschen lachen.”

Am Eingangsbereich der Palliativstation des Universitätsklinikums Jena steht ein Witzeautomat, übergeben an die Station von Dr. Eckart von Hirschhausen, einem bekannten Arzt, Komiker, Moderator und Gründer der Stiftung HUMOR HILFT HEILEN. An diesem Witzeautomat kann man sich, wie früher am Kaugummi-Automat, eine Kugel mit einem Witz ziehen.
Kostprobe gefällig? Was sitzt auf einem Baum und winkt? Antwort: ein Huhu. Falls die Palliativstation am Klinikum Bayreuth sich ebenfalls für einen solchen Automaten interessiert, bin ich sehr gern bereit, mich darum zu kümmern. Ehrenamtlich.


Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Palliativstation der Klinikum Bayreuth GmbH berichtete Prof. Dr. Axel Enders über den Abschied von seiner Frau. Den Vortrag, den er anlässlich eines Festaktes hielt, haben wir hier dokumentiert.